„Wie erzählt man eine Gewaltgeschichte, ohne Gewalt zu multiplizieren?“

Drei Jahre Krieg in der Ukraine: Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja stellte bei Publix ihr Buch Als wäre es vorbei vor, in dem sie Bilder und Geschichten aus ihrer Heimat im Ausnahmezustand gesammelt hat.

Katja Petrowskaja wurde 1970 in Kiew geboren und lebt seit 1999 in Deutschland. Im Jahr 2013 gewann sie den Ingeborg-Bachmann-Preis für deutschsprachige Literatur. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schrieb sie von 2022 bis 2024 eine Kolumne über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Daraus ist ein Buch entstanden, gerade ist es bei Suhrkamp erschienen. Das Bühnengespräch mit Publix-Intendantin Maria Exner fand am 13. Februar 2025 statt und wurde für diese Textfassung behutsam gekürzt und sprachlich angepasst.

Frau Petrowskaja, Sie haben 2014 den Roman „Vielleicht Esther“ veröffentlicht, der vielfach ausgezeichnet und in 33 Sprachen übersetzt wurde. Die beiden Bücher, die seither erschienen sind, versammeln Texte zu Ihren Betrachtungen von Fotografie. Wie kam es dazu?

Katja Petrowskaja: Es war tatsächlich der Beginn des Krieges im Osten der Ukraine, der mich beinahe dazu gezwungenen hat. Ich stand bei der Premiere von „Vielleicht Esther“ im März 2014 auf der Bühne – das war einige Tage nach der Annexion der Krim – und hatte das komische Gefühl, dass ich zwar über den Zweiten Weltkrieg geschrieben habe, über meine Heimat, aber ich war zu spät. Die Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg fühlte sich in diesem Moment fast manieriert an.

Ich habe mir dann lange überlegt, was ich mit diesem Krieg machen kann: Was und wie könnte ich darüber schreiben? Es war das Bild eines Bergmanns aus dem Donbass, das mich dazu gebracht hat, über Fotografie zu schreiben. Es war sein Blick, der sich auf uns richtete und uns fragte: Wo stehen wir mit diesen Ereignissen in der Ostukraine? Das Bild stammt von der Fotografin Yevgenia Belorusets. Sie war damals schon am Nerv des Geschehens. Als später im Jahr 2022 der Krieg anfing, berichtete sie aus Kiew. Sie hat die ersten 40 Tage für Spiegel Online in einem Tagebuch dokumentiert.

Was haben wir hier in Deutschland in diesen Jahren zwischen 2014 und 2022 übersehen? Was haben wir nicht wahrgenommen, sodass wir von den Ereignissen im Februar 2022 dann so überrascht wurden?

Petrowskaja: Niemand kann behaupten, sie oder er habe diesen Krieg kommen sehen. Was übersehen wurde? Dass Russland eigentlich seit 1994 eskaliert. Dann zu sagen, dass der Westen Russland provoziert habe, ist sehr, sehr naiv – und unverantwortlich. Wir haben den zweiten Tschetschenien-Krieg gesehen, wir haben den Georgischen Krieg gesehen, wir haben Syrien erlebt. Wir haben die Annexion der Krim und den Krieg in der Ost-Ukraine erlebt, als „Nord Stream 2“ gebaut wurde. Das ist das Eine. Die zweite Sache ist die Appeasement-Politik in Deutschland, diese Idee, dass man Putin durch irgendwelche zivilisierten Methoden dazu zwingt, auch zivilisiert zu sein. Und interessanterweise stellte sich im Bezug auf die Erinnerungskultur heraus – obwohl man Deutschland auf keinen Fall für irgendwelche Defizite dieser Kultur beschuldigen kann –, dass es einfacher ist, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, als zu erkennen, welche Monster aus dieser Vergangenheit erwachsen sind. Wir suchen immer noch nach Gründen für diesen Krieg, aber es gibt keinen Grund außer Vernichtung.

Wie haben Sie die Fotos für Ihre Kolumnen ausgewählt? Welche Bilder zeigt damit nun auch Ihr Buch – und welche nicht?

Petrowskaja: Was ganz wichtig ist: Auch meine Texte sind Momentaufnahmen. Dieses Buch ist keine Berichterstattung des Krieges. Es ist auch keine Verkörperung des Krieges durch Fotografie, sondern es ist eine Sammlung von Fragmenten. Es ging mir darum, in jedem Moment etwas zu fixieren, das Kriegsgeschehen oder den eigenen Zustand wahrzunehmen. Ich bin eben nicht in Kiew, ich bin nicht an der Front, ich bin nicht mal in der Ukraine. Ich habe aus der Sicht eines Menschen in Berlin geschrieben, der Freunde und Verwandte in der Ukraine hat. Ich habe oft Bilder von Freunden bekommen, deswegen sind viele der Bilder schon vorgewärmt. Etwa das Coverfoto: das Selfie eines Mädchens, das zu Kriegsbeginn im Kiewer Waisenhaus „Die Stadt der Kinder“ war.

Was ist die Geschichte dieses Mädchens?

Petrowskaja: Die Leiterin des Waisenhauses versuchte erst, die Kinder den Verwandten oder Nachbarn zu geben. Dieses Mädchen kam dann in eine Gegend, die kurz darauf heftig bombardiert wurde. Sie dachte an einem Tag, dies sei der letzte Tag ihres Lebens. Sie ist sehr aktiv auf Instagram, also machte sie sich schön, stellte ihr Handy auf den Kühlschrank und dann dachte sie: Ich kenne ja den Zweiten Weltkrieg nur durch Schwarz-Weiß-Fotos, also mache ich das auch. Schwarz-weiß ist der Krieg. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 13 Jahr alt. Sie heißt Angelina. Später wurden alle Kinder des Waisenhauses nach Deutschland gebracht, nach Bayern, wo eine wohlhabende Dame den Kindern ihr ganzes Haus, ja, man kann sagen, geschenkt hat. Für ein Theaterprojekt an der Waldorfschule Mitte kamen die Kinder auch nach Berlin, und Angelina stellte sich mit ihrem Foto ausgedruckt auf einem A4 Blatt vor die Gruppe und sagte: Ich möchte die Protagonistin meines eigenen Lebens sein.

Im Buch ist keines der Kriegsbilder zu finden, die die ganze Weltöffentlichkeit kennt.

Petrowskaja: Gerade am Anfang war die Angst so groß, dass ich eher nach einem Schutz suchte. Ich habe viele Bilder nur beschrieben, aber nicht gezeigt. Also in gewisser Weise habe ich einige Bilder gezeigt, um andere zu verschweigen, die viel schlimmer sind, viel gewalttätiger und viel tragischer.

Etwa von der zerstörten „Brücke des Friedens“ zwischen Kiew und Irpin. Die Brücke kommt in Ihrem Buch erst vor, als Freiwillige dort bereits aufräumen.

Petrowskaja: In den ersten Tagen des Krieges hatten wir alle schon so viele Bilder von Zerstörungen gesehen, es wurden wichtige Museen zerstört, da war schon Mariupol, überall Bombardierungen und Menschen, die weggebracht werden. Aber ich war nicht vor Ort, ich konnte keine Reportagen schreiben, ich habe diesen Teil den Menschen gelassen, die tatsächlich da waren. Wir begegnen im Buch überhaupt sehr wenigen Bildern der Gewalt – es gibt natürlich einige, das kann man überhaupt nicht vermeiden – aber mir war wichtig, was nicht erzählt wurde: die Geschichten konkreter Menschen und die Empfindung des Krieges von hier aus.

Viele der Fotos im Buch haben Sie auf Social-Media-Kanälen gefunden und dann die Geschichten der abgebildeten Menschen recherchiert. Waren Sie dankbar für die Möglichkeit, all das sehen zu können, von hier eintauchen zu können in Tausende von Kriegserfahrungen?

Petrowskaja: Man kann sagen, dass der Krieg durch Social Media demokratisiert ist. Jeder Soldat hatte am Anfang ein Handy. Aber schnell gab es ein – erst unausgesprochenes und dann ein ausgesprochenes – Verbot, bestimmte Bilder zu posten, direkt von der Front zum Beispiel.

Ein Verbot der Regierung?

Petrowskaja: Der Kriegsregierung, ja. Ich schreibe darüber in einem der Texte. Zum Beispiel ist es verboten, Raketensplitter zu fotografieren. Ich habe selbst aus meinem Haus eine abgeschossene Rakete gesehen, in Kiew, als ich im Sommer 2023 da war. Und ein Foto gemacht. Man sieht alle möglichen Facetten des Krieges dadurch, dass viele Menschen überall fotografieren. Und ich muss gestehen, die ukrainischen Instagram-Kanäle unterscheiden sich drastisch von dem, was man in deutschen Medien sieht. Was zeigt man und was zeigt man nicht, ist eine wichtige Frage, auch für mich. Wie erzählt man eine Gewaltgeschichte, ohne Gewalt zu multiplizieren? In jeder Zeitung, und nicht nur in Deutschland, wurde während dieses Krieges intensiv diskutiert, was man zeigt und was man nicht zeigt. Wie ethisch ist es, einen trauernden Vater zu fotografieren, der zwei Minuten nach dem Tod seines Sohnes bei dessen Leiche sitzt?

Als der Krieg begann, wirkten die Ukrainer:innen auf viele Menschen hier unerschrocken, sie leisteten Widerstand, halfen einander, hielten beinahe stoisch an ihrem Alltag fest. Gibt es das aus Ihrer Perspektive: eine besondere Stärke der Ukrainer:innen?

Petrowskaja: Es war erstaunlich, was am Anfang des Krieges entstanden ist, wie in einem Schelmenroman. Wie viele Initiativen, wie viele unglaubliche Verbindungen von Menschen entstanden sind. Wo der Staat gar nicht so schnell reagieren konnte, waren die Leute alle dabei – von den kleinsten Dingen bis zum Großen. Am Anfang des Krieges machten alle alles. Diese Stärke gab es tatsächlich, und es gibt sie immer noch, auch wenn die Situation jetzt eine ganz andere ist. Diese Stärke ist kein Mythos. Ich glaube, die Menschen hatten ganz genau verstanden, was angegriffen wurde, was sie verlieren können. Und das ist offensichtlich ein Erbe des Maidan. Ich glaube, etwas hat sich damals dramatisch in der Ukraine verändert, als die Leute verstanden, was sie zu verteidigen haben.

Vielen Dank, liebe Katja Petrowskaja, dass Sie bei uns waren.

Petrowskaja: Danke. Es ist ein komplexes Gefühl, ein Buch über den Krieg vorzustellen und sich dabei zu freuen. Ich habe mir dieses Buch wirklich nicht gewünscht.

Katja Petrowskaja, „Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg“, Suhrkamp Verlag, 217 Seiten, 25 Euro

Foto: Paul Alexander Probst

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