Gastbeitrag: Keine Angst vor falschen Meinungen
So hart, so laut, so zerstörerisch: Hat Deutschland ein ganz besonderes Debattenproblem? Etablierte Medien müssen aufpassen, nicht selbst zu aktivistischen Meinungsmachern zu werden. Ein Gastbeitrag von Tobias Haberkorn
Tobias Haberkorn ist einer von vier Gründungsredakteur:innen der “Berlin Review”. Seit Februar 2024 erscheint die neue Zeitschrift für Bücher und Ideen mit acht digitalen und zwei gedruckten Ausgaben pro Jahr. Die erste Ausgabe mit Texten von Adania Shibli, Ivan Krastev/Stephen Holmes, Elad Lapidot, Yevgenia Belorusets, Carolin Amlinger und anderen beschäftigte sich mit dem Krieg im Nahen Osten. Die zweite Ausgabe erscheint am 19. März und widmet sich neben aktuellen Ereignissen auch der Leipziger Buchmesse und den dortigen Gastländern Niederlande/Flandern. Alle Texte, Podcasts und Veranstaltungstermine finden sich unter blnreview.de. 2023 war Tobias Haberkorn ein Fellow von Publix.
Als ich um das Jahr 2010 anfing, in deutschen Zeitungen zu hospitieren, war die Devise der meisten Redaktionen: Wir brauchen mehr Meinungen, denn nur Streit zieht die Leser:innen rein, nur durch Debatten haben traditionelle Medien eine Chance, in der Kakophonie des Internets zu bestehen. Auf digitalen Plattformen standen journalistische Inhalte neben Privatem. Was am meisten aufregte, setzte sich durch.
Debatten und Diskussionen gibt es in sozialen Medien natürlich bis heute. Auf X werden sie genauso vehement geführt wie früher auf Twitter. Aber der Optimismus, es würde demokratiefördernd wirken, wenn alle online ihre Meinung äußern, ist längst gebrochen. Wir erleben vielmehr eine destruktive Unversöhnlichkeit, die zum Geschäftsmodell geworden ist. Immer häufiger treten Meinungsunternehmer:innen mit ihren Social-Media-Profilen gegen ganze Medienhäuser an. Schon lange fordern etwa so unterschiedliche Akteur:innen wie die Künstlerin Candice Breitz oder der Journalist Thilo Jung die Bundesregierung zu einer kritischeren Haltung gegenüber israelischem Regierungshandeln auf. In einer heillos emotionalisierten Debatte haben sie nicht einzelne Stimmen, sondern weitgehend geschlossen auftretende Redaktionen wie die Welt oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung gegen sich.
Das Hamas-Attentat und Israels Gegenschlag auf Gaza, Klimawandel, Pandemie, Flüchtlingsbewegungen, Aufstieg der AfD oder Ukraine-Krieg: Mit jeder großen Krise der jüngsten Zeit haben sich die Fronten weiter verhärtet. Auf den Streit folgt das Cancelling: Man sucht die Fehler beim Anderen, findet sie natürlich auch, fordert Ausschlüsse und Konsequenzen. Es schrumpfen die Räume, in denen gegensätzliche Meinungen nebeneinander stehen können, ohne dass ihre Protagonist:innen in ihrer Existenz angegriffen werden. Was bedeutet das für eine Gesellschaft, die in all diesen Jahren immer diverser geworden ist? Was bedeutet es für die Medien, die dieser Gesellschaft auch weiterhin das Wissen zutragen möchten, das es für eine demokratische Willensbildung braucht?
Liberale in der gesamten westlichen Welt haben mit Staunen verfolgt, dass die Verleihung des Bremer Hannah-Arendt-Preises an Masha Gessen abgesagt wurde. Gibt es in Deutschland wirklich ein repressives Meinungsklima, das eine derart renommierte Autor:in wie Gessen wegen des historischen Vergleichs von Gaza mit einem Ghetto im Zweiten Weltkrieg von der Diskussion ausschließen will? In der ersten Ausgabe unseres Magazins „Berlin Review“ kommentieren Ivan Krastev und Stephen Holmes diese Frage. „Nicht die deutsche Heuchelei ist das Problem, sondern die deutsche Unnachgiebigkeit, die Unfähigkeit, sich einer konvulsiv (“krampfhaft zuckenden”, Anm. d. Red.) dynamischen Welt anzupassen.“
Die Maßstäbe dessen, was besprochen werden kann, verschieben sich ständig. Das liegt nicht etwa an einem moralischen Verfall der Diskussionsregeln oder an einer ideologischen Verhärtung, sondern tatsächlich an einer sich rasch verändernden Welt. Die liberale Nachkriegsordnung, schreiben Krastev und Holmes, ist zusammengebrochen. Und trotzdem müssen wir weiterdiskutieren.
Zwei Dinge erscheinen mir in diesem Zusammenhang wichtig: Erstens sollten wir aufhören, Menschen auf einzelne Wortmeldungen zu reduzieren. Nur, weil jemand einen bestimmten Ausdruck benutzt oder einen aktivistischen Post geliked hat, ist er noch kein überzeugter Anhänger dieser oder jener Sache. Die gesamte Infrastruktur der sozialen Medien baut auf reflexhafte Reaktionen der Nutzer:innen. Da ist es absurd, wenn Mikrohandlungen wie ein Like zum Maßstab für die Integrität einer Person gemacht werden. Wer Stimmen auslädt, weil sie sich auf diese Weise abweichend verhalten haben, zeigt die von Krastev und Holmes kritisierte deutsche Rigidität.
Und auch die explizit formulierte Antwort auf eine bestimmte Frage definiert noch nicht das ganze Wesen oder die gesamte Haltung einer Autor:in. Es muss weiterhin möglich sein, Provokantes, Übertriebenes oder auch Falsches zu sagen, ohne dass man dafür gleich Aufträge, Preise, Stipendien oder andere berufliche Chancen riskiert. Besonders für freie Journalist:innen ist es fatal, wenn sie von ihren Auftraggebern wegen unliebsamen Tweets "abgestraft" werden. Es beschädigt sie finanziell und ideell, wenn sie infolgedessen gemieden werden.
Zweitens sollten sich etablierte Medien überlegen, wie weit sie das Meinungs- und Debattenspiel mitbetreiben wollen. Ab einem gewissen Punkt sind auch die sogenannten Feuilletondebatten, welche die Kulturseiten deutscher Leitmedien monatelang mit Für- und Wider-Texten zu einem Thema füllen, nur noch trash und Selbstzweck. Wenn sich das Medium nur der Rechthaberei widmet – auf Redaktions- wie auf Publikumsseite – hat es das big picture, den Sinn fürs Ganze, aus dem Blick verloren.
Darin sollte doch das Ziel redaktioneller Medien liegen: Verantwortlichkeit und Verpflichtung dem großen Ganzen gegenüber. Für ein neues Magazin wie “Berlin Review” heißt das, dass wir uns immer wieder fragen: Wie können wir uns der algorithmischen Logik des Ewiggleichen entziehen? Wie bringen wir wirklich neue Perspektiven in die Diskussion? Wie überraschen wir uns selbst? Dazu gehören Mut und die Fähigkeit, frei zu denken. Keine Angst zu haben vor der Empörung der anderen, aber auch nicht vor der Revision der eigenen Meinung.
Wer dazu nicht bereit ist, braucht nicht in einer Redaktion zu arbeiten, sondern kann auf Social Media aktivistisch seine Sache vertreten.
Fotos:
Portrait Masha Gessen: © Murdo Macleod/Polaris/laif
Portrait Tobias Haberkorn: © Christian Werner