Gastbeitrag: Fünf Punkte zur Rettung der politischen Öffentlichkeit

Der Journalismus soll nicht nur die Gesellschaft abbilden und informieren. Er soll sie auch stärken. Besonders jetzt. Der Soziologe Dieter Rucht benennt in seinem Publix-Gastbeitrag fünf Maßnahmen für Medienschaffende.

Prof. Dr. Dieter Rucht hat viele Jahrzehnte zur Soziologie der politischen Öffentlichkeit geforscht. Bis zu seiner Emeritierung 2011 leitete er u.a. die Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Er ist Mitbegründer des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb).

Jede funktionierende Demokratie braucht eine politische Öffentlichkeit. In diesem Raum gelangen Bürgerinnen und Bürger an Informationen über die Gesellschaft, in der sie leben, und nehmen Teil an deren Gestaltung. Allerdings ist dieser Raum bedroht: Die politische Öffentlichkeit erscheint zunehmend geschwächt. Insbesondere die jüngere Generation bleibt den „klassischen“ Medien wie Hörfunk, Fernsehen und vor allem den Printmedien fern. Stattdessen bevorzugt sie Plattformöffentlichkeiten, die keiner Qualitätskontrolle unterliegen. Die Verlagerung der Kommunikation in digitale Räume fördert eine Fragmentierung der Öffentlichkeit. Es wächst ein Archipel aus unverbundenen Teil- und Halböffentlichkeiten, die sich selbst genügen und sich selbst bestätigen. Mit Hilfe  von profitgetriebenen Algorithmen erzeugen diese Plattformen jeweils eigene thematische Schwerpunkte, Bewertungsmechanismen und letztlich Wahrnehmungsweisen. 

Diese neue Medienlogik begünstigt politische Extreme. Und so verstärkt sie auch Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus, die hierzulande in der AfD einen zentralen Agenten gefunden haben. Darauf zu reagieren ist nicht nur Aufgabe aller demokratischen Parteien und einer aktiven Zivilgesellschaft, sondern auch des Journalismus, der maßgeblich an der Definition und Bewertung öffentlicher Angelegenheiten beteiligt ist. 

Was also können journalistische Medien zur Stärkung der politischen Öffentlichkeit unternehmen? Ich sehe folgende fünf Handlungsfelder: 

Informationsverbünde schaffen: Die Verinselung von Kommunikationsräumen, insbesondere den digitalen, ist schwerlich aufzuhalten. Allerdings könnte ein Teil der Medien, analog zu den bestehenden Rechercheverbünden, für Fragen von hoher politischer Relevanz eine gesonderte gemeinsame – digitale und analoge – Plattform schaffen: Hier könnten Informationen zu relevanten Fragen gebündelt und kontroverse Meinungen und Argumentationslinien wie auch direkte Reaktionen des Publikums präsentiert werden.

Komplexität abbilden: Studien belegen, dass schlechte Nachrichten häufiger gelesen werden. Mit ihrem Fokus auf Konflikt und Negativität übertreiben viele Medien die tatsächlich bestehenden Meinungsunterschiede zwischen politischen Akteuren. Insofern tragen sie zu plakativen Vereinfachungen und Polarisierung bei. Zuweilen wird der Eindruck erweckt, dass hierzulande nur noch gestritten werde, nichts mehr funktioniere und die meisten Amtsträger:innen ignorant und unfähig seien. Mehr Differenzierung ist angebracht. Zum Beispiel könnte die detaillierte mediale Begleitung politischer Arbeit wichtige Grautöne zu einem realistischen Bild hinzufügen. Auch wäre die populistische Behauptung, die Ursachen gesellschaftlicher Probleme erkannt und bereits Lösungsangebote parat zu haben, öffentlich zu überprüfen. Hier erweisen sich die Moderator:innen diverser Talkshows zwar als hoch engagiert, aber wirken in der Debatte mit inzwischen routinierten Populist:innen fast durchweg überfordert.

Fakten präsentieren: Wenn sich politisch motivierte Interessengruppen auf „alternative Fakten“ berufen, sollten Qualitätsmedien dies weder ignorieren noch als absurd abtun. Stattdessen können einige Fälle exemplarisch widerlegt werden: So wie man zeigen kann, dass die Erde keine Scheibe ist, so lässt sich auch empirisch nachweisen, dass manche Behauptungen über gesellschaftliche Zustände und Vorgänge weit übertrieben oder sogar frei erfunden sind. Dieses exemplarische Kontern wird den harten Kern von Verschwörungsgläubigen nicht überzeugen, aber vermag in deren Umfeld doch Zweifel zu wecken. So könnte etwa der Behauptung, hierzulande herrsche eine „Meinungsdiktatur“, mit einer kleinen und fortlaufenden medialen Rubrik begegnet werden, in der angeblich „Unsagbares“ präsentiert wird. Es könnte dort auch eine Debatte darüber geführt werden, ob es gute Gründe gibt, bestimmte Aussagen gesetzlich zu verbieten oder sozial zu ächten.

Ablehnung ergründen: Die Teilnahme an öffentlichen Diskursen ist freiwillig. Welche Individuen und Gruppen sich diesen Debatten (und ebenso politischen Wahlen) entziehen, verdient aber durchaus öffentliche Aufmerksamkeit. Was sind die Gründe ihrer Enthaltung? Und mit welchen Konsequenzen ist zu rechnen, wenn diese Abstinenz zum Massenphänomen wird? Abgesehen von sozialwissenschaftlichen Analysen könnten gezielte Medienrecherchen den „abgehängten“ Menschen ein Gesicht und, so diese es wünschen, auch eine Stimme geben.

Selbstreflexion etablieren: Die Beobachtung medialer Entwicklungen sollte nicht nur den Kommunikationswissenschaften überlassen bleiben, sondern als konzertierte Anstrengung auch von den Medien selbst betrieben werden. Dies wäre Aufgabe eines gut ausgestatteten, staatsfernen Gremiums: Jenseits des Deutschen Medienrats und des Presserats, die mit anderen Aufgaben befasst sind, würde es ein problemorientiertes und langfristig angelegtes Monitoring des Mediensystems betreiben, seine Befunde zum Gegenstand öffentlicher Diskurse machen und Vorschläge unterbreiten, wie Fehlentwicklungen korrigiert werden können.

 

Photo:

Portrait Dieter Rucht: ©privat

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