Falsche Bilder können wir uns nicht leisten

Die Krise von Medien und Demokratien verändert unseren Blick auf die Realität: KIs erfinden Bilder, wo früher Reporter:innen nach Wahrheiten gesucht haben. Nie war Fotojournalismus wichtiger als jetzt!

Ein Gastbeitrag von Sven Ehmann, laif foundation

Wenn Fotojournalist:innen keinen Zugang haben, wird es solche Bilder bald nicht mehr geben: Nach dem Sturm auf den US-Kongress in Washington am 6. Januar 2021 wurde das Foto dieses Beamten der US Capitol Police zu einem Symbol für die Zerbrechlichkeit der Demokratie.
© Ashley Gilbertson/VII/Redux/laif

Wer kann bezeugen, dass Trump und Netanjahu am Pool in Gaza chillten? War jemand dabei, als Putin in Handschellen abgeführt wurde oder als der Papst die dicke, weiße Daunenjacke trug? Mit Sicherheit nicht, denn diese Momente hat es so nie gegeben. Und doch schauen wir auf die neuen, glatten KI-Bilder und lassen uns provozieren und verführen. Das ist die Ästhetik unserer postfaktischen Epoche. Millionenfach geliked und geteilt, legen sich diese Trugbilder über das, was wirklich in der Welt passiert.

Die Bilderströme der sozialen Medien überfordern uns schon länger. Jetzt rollt die noch viel stärkere Flut an KI-generierten, fotoähnlichen Bildern heran. Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte? Mag sein. Aber das gilt auch für schlechte, künstliche und falsche Bilder. Wovon erzählen sie? Wessen Narrativ verbreiten sie? Welche Vorurteile tragen sie in sich und zu uns? Die neuen Bilder sind mächtig. Sie setzen sich fest. Sie prägen Diskurse. Sie regen uns auf und lenken uns ab. Im Alltag, im Wahlkampf, in den Medien. In dieser Masse von ungewissen Motiven verlieren wir Überblick, Einblick und Durchblick. Wir verlernen zu erkennen, welche Fotos glaubwürdig und sehenswert sind, wie wir sie lesen, verstehen und hinterfragen können. Unser Bild von der Realität verschwimmt.

Während wir ohnmächtig zwischen omnipräsenten Smartphones und omnipotenten KIs stehen, wird klar: Nie war Bildjournalismus so wichtig wie jetzt. Wir müssen sehen, wenn ein Krieg ausbricht, wenn das Feuer naht, wenn die Demokratie bedroht wird, und wir wollen auch sehen, wenn Frieden geschlossen oder ein Wald aufgeforstet wird. Wir wollen es sehen und wir wollen es glauben können. Da genügen uns erfundene und gepromptete Motive nicht, sie sind zu articifial, wo wir Menschlichkeit brauchen.

Engagierte Fotografie zeigt uns die wichtigen Ausschnitte der Wirklichkeit, die entscheidenden Momente. Sie erreicht uns direkter und unmittelbarer als andere Medien. Aber diese Fotos entstehen nur, wenn jemand am Ort des Geschehens ist. Wenn jemand Zeitzeug:in wird und Zeugnis ablegt. Fotojournalist:innen leisten diese Arbeit. Sie sind Fotograf:innen und Journalist:innen zugleich. Sie recherchieren intensiv, sind in heiklen Situationen dabei und sehen genau hin, damit wir anderen uns ein Bild machen und uns eine Meinung bilden können.

Die Arbeit engagierter Fotojournalist:innen beschränkt sich nicht auf Schnappschüsse, nicht auf Bruchteile von Sekunden. Sie sind länger vor Ort und tiefer im Thema. Sie lassen sich auf Menschen und Situationen ein. Aus solchen Begegnungen entstehen fotografische Geschichten, die nicht (nur) das Spektakuläre, sondern auch das Nebensächliche, Wahre, vielleicht Wichtigere zeigen. Ihre Bilder schreiben unsere Geschichte und prägen unser kollektives Bewusstsein. Der blaue Planet, die Befreiung von Auschwitz, 9/11, Geflüchtete nach der Überquerung des Mittelmeers: Sofort haben wir Bilder im Kopf. Das ist die Arbeit von Fotojournalist:innen. Tagtäglich. Jetzt.

Diese Arbeit ist anspruchsvoll und sie wird immer schwieriger, auch immer gefährlicher. Anspruchsvoll, weil Fotograf:innen der Komplexität von Situationen in Bildern oder Serien gerecht werden wollen. Schwieriger, weil diese Arbeit immer schlechter bezahlt wird. Gefährlicher, weil Fotograf:innen durch ihr Werkzeug erkennbar sind und attackiert werden. Und weil ihnen der Zugang erschwert wird, bis es womöglich von den wichtigen Ereignissen unserer Zeit bald keine glaubwürdigen, journalistischen Fotos mehr geben wird. Bis vielleicht alle, auch historische Bilder, wie es der Autor Fred Ritchin nennt, “AI-washed” sind.

Wenn Zeitungsauflagen sinken und Magazine nicht mehr rentabel produziert werden können, kürzen Redaktionen auch ihr Bildbudget, und Fotograf:innen verlieren Aufträge. Dann heißt es “gute Bilder konnten wir uns nicht leisten”. Dabei ist die Vorarbeit von Fotograf:innen oft die Basis größerer Beiträge. Und warum sollte ein Text aus Leser:innensicht die Lektüre wert sein, wenn schon das Bild nichts sagt? Können und wollen wir als Gesellschaft es uns wirklich leisten, auf den menschlichen Blick zu verzichten, während künstliche Intelligenzen uns Fantasiewelten vorgaukeln?

Solange es noch unabhängige Gerichte, glaubwürdige Medien und eine wache Öffentlichkeit gibt, geht es darum, neue Modelle zu entwickeln, damit engagierter, unabhängiger, ehrlicher Fotojournalismus weiterhin entstehen kann und verbreitet wird. Eine Reihe von Initiativen weist den Weg:

Die Content Authenticity Initiative bringt Tech-Firmen, Kamerahersteller und Medienhäuser zusammen, um ein technisches Modell zu etablieren, das dokumentiert, woher ein Bild kommt und wie es verändert wurde, seit der Kameraauslöser gedrückt wurde. So können wir nachvollziehen, was wir wirklich sehen. In eine ähnliche Richtung geht das Four Corners Projekt, dass Bildautor:innen ermöglicht, mehr Kontextinformationen in ihre Fotos einzubinden und diese den Betrachtenden anzubieten.

Auch fotojournalistische Projekte geben Impulse. Die Initiative Writing with Light, der laif angehört, formuliert grundlegende professionelle Prinzipien, damit diese für Öffentlichkeit und Medienakteur:innen nachvollziehbar werden. Gleichzeitig findet eine neue Fotograf:innen-Generation für neue Themen auch neue Bildsprachen. Das Kollektiv Docks beispielsweise macht das Unsichtbare sichtbar, das Abstrakte konkret, das Relevante diskursfähig und erreicht sein Publikum in klassischen Medienkanälen, aber auch mit eigenen Publikationen, Events und großer Experimentierfreude.

Besonders relevant – und noch recht selten – sind medienökonomische Innovationen, die Fotojournalist:innen auch weiterhin erlauben, ihre Projekte zu finanzieren und von ihrer Arbeit zu leben. Es braucht neue Geschäftsmodelle und gemeinwohlorientierte Programme mit Akteur:innen, die den Wert von Fotos erkennen als Informationsquelle, aber vor allem als Impuls von Begegnung, Dialog und Teilhabe. Als Vorbild kann die US-Initiative Catchlight dienen. Sie unterstützt Lokalmedien, indem sie einen Teil der Gehälter für angestellte Fotograf:innen übernimmt und zudem die Leistung einer zentralen Bildredaktion anbietet. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie lokaler Bildjournalismus noch bzw. wieder möglich ist. Und wie Unternehmen, Stiftungen und Privatpersonen dieses Engagement nachhaltig unterstützen können. Die Zeiten sind schwierig, aber nicht hoffnungslos.

Fotojournalismus zeigt, was ist. Fordert diese Bilder ein, fordert Klarheit über die Quellen, die Umstände und Intentionen ihrer Entstehung. Fördert und schützt Fotograf:innen und ihre Arbeit, baut oder unterstützt diese neuen Modelle. Aber vor allem: Schaut hin, denkt nach, fragt nach, geht in den Diskurs. Lasst uns die Bilder feiern, die sehenswert und glaubwürdig sind.

Die laif foundation ist eine der Organisationen unter dem Dach von Publix. Sie engagiert sich für unabhängigen Fotojournalismus und eine informierte Gesellschaft.

Foto: Wenn Fotojournalist:innen keinen Zugang haben, wird es solche Bilder bald nicht mehr geben: Nach dem Sturm auf den US-Kongress in Washington am 6. Januar 2021 wurde das Foto dieses Beamten der US Capitol Police zu einem Symbol für die Zerbrechlichkeit der Demokratie. © Ashley Gilbertson/VII/Redux/laif

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