„Es besteht die Gefahr, dass die digitale Öffentlichkeit künftig nur einem bestimmten politischen Projekt dient: dem Autoritären“

Drei Wissenschaftler:innen sprachen bei Publix über Desinformation als Symptom des demokratischen Zerfalls. Welche Verantwortung trägt Social Media, welche die Politik? Und wie sollten Journalist:innen mit X, dem Meta-Konzern und der europäischen Digitalgesetzgebung umgehen?

Die Rechtswissenschaftlerin Clara Iglesias-Keller, die Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann und der Konservatismusforscher Curd Knüpfer haben sich am Weizenbaum-Institut mit Desinformationskampagnen beschäftigt. Hier lesen Sie ausgewählte Passagen eines 90-minütigen Bühnengesprächs. Das ganze Gespräch sehen Sie hier.
Die Fragen für Publix stellte Intendantin Maria Exner. Zur besseren Verständlichkeit wurde das gesprochene Wort für diese Textfassung behutsam gekürzt und sprachlich angepasst.

Warum war es Ihnen als Wissenschaftler:innen wichtig, sich vier Wochen vor der Bundestagswahl zum Thema Desinformation zu Wort zu melden?

Clara Iglesias-Keller: Es steht sehr viel auf dem Spiel. Die Eindämmung rechtsextremer Politik in Europa und in Deutschland ist im Moment die drängende Aufgabe. Wie funktioniert rechtsextreme Kommunikation? Was wissen wir über Desinformation? Wir als Wissenschaftler:innen haben zu diesen Fragen Massen empirischer Beweise, die ein sehr nuanciertes und teils sogar widersprüchliches Bild zeigen. Es ist zum Beispiel so, dass Wähler:innen selten aufgrund von Desinformation ihr Wahlverhalten ändern. Aber innerhalb bestimmter politischer Gruppen wirkt Desinformation sehr stark. Hinzu kommt: In den vergangenen zwei Monaten haben wir gesehen, wie die digitalen Plattformen sich offen an die Seite der Trump-Regierung in den USA stellen.

Sie meinen die Ankündigungen von Mark Zuckerberg, die Zusammenarbeit mit Fact-Checkern einzustellen?

Iglesias-Keller: Im Fall von Meta erleben wir, dass Plattformen gerade jene Maßnahmen abschaffen wollen, die ein gewisses Maß an Schutz und Standards dafür bieten sollten, wie diese Unternehmen die Meinungsfreiheit und auch die Debatte vor Wahlen im Internet beeinflussen. Wer Demokratie und Wahlen schützen will, muss ab jetzt davon ausgehen, dass die Plattformen nicht mehr zur Zusammenarbeit bereit sind. Es besteht die Gefahr, dass die digitale Öffentlichkeit künftig nur einem bestimmten politischen Projekt dient: dem Autoritären.

Eine Befragung der Bertelsmann-Stiftung zeigte bereits vor einem Jahr, dass 81 Prozent der Deutschen Desinformation für eine große Bedrohung unserer Demokratie halten. Wie wurde Desinformation zu einem so großen Problem?

Jeanette Hofmann: Im Jahr 2016 fanden das Brexit-Referendum und die US-Wahl statt. Gemeinsam ist beiden, dass das Ergebnis ganz anders ausgefallen ist als erwartet und sich alle Welt fragte: Wie ist das möglich? Die Antwort lautete: Desinformation, Einflussnahme von außen, Manipulation der Wählenden. Und wie konnte das geschehen? Die digitalen Plattformen, die sozialen Medien. Man hatte einen Schuldigen gefunden, und das war die digitale Kommunikation, die ungeschützt ist und deshalb von Russland, China und anderen besetzt werden konnte. Das Problem ist, dass wir mit dieser Art der Kontextualisierung an verschiedenen Stellen wirklich falsch abgebogen sind.

Inwiefern?

Hofmann: Erstens ist Desinformation seither verknüpft mit digitalen Plattformen. Zweitens denken wir, sie kommt von außen, und damit übersehen wir wichtige Quellen im eigenen Land, die ursächlich sind für die Verbreitung von Desinformation. Und schließlich übersehen wir, wie gering die Anzahl der Menschen ist, zumindest in Deutschland, die direkt über soziale Medien mit Desinformationen in Berührung kommt. Die wenigen Untersuchungen, die wir haben, kommen für Deutschland immer auf Ergebnisse zwischen drei und sieben Prozent der Bevölkerung. Wenn Desinformation trotzdem Prominenz gewinnt – etwa wenn eine Verschwörungserzählung wie „Pizza Gate“ um die Welt wandert –, dann sind es leider die klassischen Medien, die diese Geschichten aufgreifen und erst richtig für Reichweite sorgen.

Wie viel Desinformation erreicht mich denn als durchschnittliche Bürgerin, die Informationen in klassischen Medien und auf Social Media Plattformen bekommt, jetzt, vier Wochen vor der Bundestagswahl?

Hofmann: Die Menschen sehen nicht so viel Desinformation direkt auf den Plattformen. Aber sie sehen die Schlagzeilen, die produziert werden, zum Beispiel wenn Elon Musk bei der Amtseinführung von Donald Trump einen Hitlergruß zeigt. Durch die Berichterstattung wird sichergestellt, dass jeder das mitkriegt – und so ist das bei Desinformation häufig auch, selbst mit wirklich haarsträubenden Behauptungen. Wichtig: Die Verbreitung ist nicht gleichzusetzen mit tatsächlich erfolgreicher Einflussnahme.

Welches Ziel hat Desinformation, wenn es nicht darum geht, dass Menschen falsche Tatsachenbehauptungen wirklich glauben?

Hofmann: Es ist ein Irrglaube anzunehmen, dass alle Leute, die Desinformation wahrnehmen und vielleicht sogar aktiv weiterleiten, notwendigerweise auch glauben, was sie da sehen oder lesen. Desinformation hat – gerade in populistischen und rechten politischen Gruppen – die Rolle eines Mediums mit dem man seine Zugehörigkeit zu einem politischen Lager signalisiert und Loyalität gegenüber, fast immer männlichen, Politikern ausdrückt. Die Menschen bringen damit auch Ablehnung zum Ausdruck, gegenüber politischen Eliten aber auch Wissenseliten, gegenüber Qualitätsjournalismus und Expert:innen aller Art. Diese Menschen nutzen Desinformation, um sich zu positionieren.

Sie sagten eben, es sei ein Irrglaube, dass Desinformation ein reines Social-Media-Problem sei.

Hofmann: Wir haben es doch alle während der ersten Trump-Präsidentschaft erlebt: tägliche Desinformation durch den Präsidenten. Wenn Friedrich Merz hier in Deutschland sagt, die Menschen bekämen keine Zahnarzttermine mehr, weil zu viele Geflüchtete behandelt würden, ist das ein Beispiel dafür, wie ein Politiker einer etablierten Partei aus dem demokratischen Spektrum etwas ganz Ähnliches macht.

In diesem Fall wurden diese Aussagen von vielen Medien sofort widerlegt.

Curd Knüpfer: Bei jemandem wie Friedrich Merz funktioniert das noch, diese öffentliche Kontrolle. Aber vielfach gelingt es den etablierten Medien nicht mehr, diese Kontrollfunktion in der Öffentlichkeit auszuüben. Wenn Lügen ungeprüft oder sogar absichtlich weiterverbreitet werden, dann ist uns eine demokratische Grundfunktion der Öffentlichkeit abhandengekommen.

Hofmann: An der Stelle wird Demokratie angegriffen.

Einige der größten Plattformen schalten Maßnahmen gegen die Verbreitung von Desinformation ab. Nun scheinen Nutzer:innen den offiziellen Accounts des US-Präsidenten Donald Trump schwerer entfolgen zu können, und zwischenzeitlich verschwanden auf Instagram die Suchergebnisse für Schlagworte wie #abortion, also Abtreibung. Waren Sie als Wissenschaftler:innen von den Ereignissen der vergangenen Monate überrascht – oder war dieser Kurs der Plattformen für Sie absehbar?

Curd Knüpfer: Wir haben lange übersehen, dass hinter den Plattformen, die für unsere Demokratien eine wichtige Infrastruktur der Meinungsbildung geworden sind, Geschäftsmodelle stehen. Plattformen sind nicht frei von Ideologie und nicht frei von Marktinteressen. Wir erleben durch die politischen Umstände ein Umschwenken der Plattform-Eigentümer. Sie haben verstanden, dass man unter einem Präsidenten Donald Trump nicht mehr mit dem Staat zusammen reguliert. Die Trump-Regierung macht jetzt klare Ansagen, welche Maßnahmen unbequem sind, und Zuckerberg fügt sich.

Social Media begann mit dem Versprechen, private Kommunikation zu vereinfachen. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht heute aber die politische Kommunikation auf diesen Plattformen. Ihre Forschung zeigt, dass Rechte mehr als andere politische Gruppen von Social Media profitieren.

Knüpfer: Wenn ich die Forschung auf einen Punkt reduzieren müsste, würde ich sagen: Rechts hat einen Vorteil. „Rechts" als Ideologie und als politisches Projekt. Zum einen profitieren in der sehr hybriden, schnellen Kommunikation diejenigen, die stark affektiv kommunizieren und vereinfachte Lösungen bieten. Die dringen im Diskurs besser durch. Auf der Ebene von Organisationen gibt es diesen Vorteil aber auch.

Wie blicken Sie in diesem Zusammenhang auf den Einfluss von TikTok insbesondere auf junge Wähler:innen?

Hofmann: Sehr interessant war die Interpretation der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, wo die Erstwählenden plötzlich von grün, links, umweltbesorgt, nach rechts schwenkten und vielfach die AfD gewählt haben. Die allgemeine Erklärung lautete: Die AfD ist stark auf TikTok, die junge Generation ist viel auf TikTok, also ist TikTok schuld. Und das springt wirklich zu kurz.

Wie erklären Sie sich dann diesen Rechtsruck unter jungen Wähler:innen?

Hofmann: Man muss das Phänomen der Desinformation hier in einem Kontext von Demokratieverfall sehen. Die politikwissenschaftliche Forschung arbeitet seit vielen Jahren dazu, wie die Zustimmung zu Demokratie und das Vertrauen in demokratische Institutionen in vielen Ländern nachlässt. Und viele Leute, gerade in den neuen Bundesländern, sind aus guten Gründen enttäuscht. Man kann ja zum Beispiel den Zusammenhang sehen, dass es sehr viele AfD-Wählende gibt, wo die Infrastruktur komplett zusammenbricht. Wo kaum noch ein Bus fährt und der nächste praktische Arzt 50 Kilometer weg ist. Ich würde weniger in sozialen Netzwerken wie TikTok das Problem suchen und mehr in der Einschätzung der Menschen gegenüber den demokratischen Institutionen und dem, was sie leisten können.

Um Desinformation einzuschränken, wird aktuell am meisten Zeit in vier Maßnahmen investiert: Fragwürdige Inhalte werden auf den Plattformen als solche gekennzeichnet; zu bestimmten Inhalten werden Faktenchecks verlinkt; Inhalte-Moderation, dazu gehört auch das Löschen von Inhalten; und die Stärkung von Medienbildung. Sind diese Maßnahmen sinnvoll, und vor allem, reichen sie aus?

Iglesias-Keller: Ich glaube, diese Maßnahmen sind alle sinnvoll. Wir müssen sie aber differenziert betrachten und auch ihre Limitierungen berücksichtigen. Faktenchecks beispielsweise versorgen die Öffentlichkeit mit zuverlässigen Informationen und sind für den Pluralismus unerlässlich. In einem Kontext der demokratischen Erosion können sie aber an ihre Grenzen stoßen, da die Menschen Desinformationen akzeptieren, egal ob sie wahr oder falsch sind. Sie tun dies, weil es zu ihren politischen Überzeugungen passt. Ich würde gern eine Maßnahme ergänzen: Wir brauchen dringend eine intensive Debatte über die Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht in der Hand einzelner Unternehmer. Mit Elon Musk und X und Jeff Bezos und der Washington Post haben zwei Tech-Milliardäre Medienunternehmen gekauft. Wir hatten historisch lange ein Eigentumsrecht, das eine derartige Konzentration von Marktmacht verhindern soll. Hier muss die Politik handeln.

Seit Januar ist der „Digital Services Act" (DSA) in Kraft, die EU-Regulierung der Plattform-Angebote. Wie wirksam werden die Probleme damit bekämpft?

Iglesias-Keller: Europa hat mit dem DSA einen sehr wichtigen Schritt gemacht, aber natürlich hat diese Regulierung Begrenzungen. Es ist zum Beispiel den Plattformen selbst überlassen, die Risiken ihrer Angebote für die Demokratie zu benennen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Oder: Die Frage, ob Plattformen unsere persönlichen Daten dafür verwenden dürfen, um ein Profil unserer politischen Einstellungen zu erstellen und uns entsprechende politische Werbung anzeigen zu können, wird darin gar nicht gestellt.

Hofmann: Und wir wissen noch nicht, ob die Kommission Ernst macht, wenn eine Plattform keine geeigneten Maßnahmen ergreift, um Risiken etwa für junge Nutzer:innen zu minimieren. Werden empfindlich hohe Strafzahlungen fällig? Wie reagiert die Kommission, wenn Donald Trump verlangen würde, die Regulierung zurückzunehmen und dafür etwa mit Strafzöllen drohte? Wir werden das beobachten müssen.

Knüpfer: Ein Problem der aktuellen Regulierung ist die Prämisse, auf der sie aufbaut. Im DSA ist angelegt, dass es immer diese sehr großen digitalen Plattformen geben wird, als eine Art Naturgesetz, und wenn es sie gibt, müssen sie eben reguliert werden. Man hat nicht andersrum gedacht: Sehr große digitale Plattformen müssen als Unternehmensform verhindert werden. Oder: Wie bekommen wir eine sehr große digitale Plattform hin, bei der wir nicht darauf hoffen müssen, dass eine Strafe hoch genug ist, um jemanden im Silicon Valley zu beeindrucken.

Publikumsfrage: Sie haben geschildert, dass die Verstärkung durch etablierte Medien ein Problem bei der Desinformation ist. Wie sollten Redaktionen – die nicht einfach so tun können, als sei nichts passiert, wenn Elon Musk den Hitlergruß zeigt – denn im konkreten Fall besser damit umgehen?

Knüpfer: Es kommt darauf an, nicht nur zu berichten wer und was passiert ist, sondern vor allem: Warum zeigt er den Hitlergruß auf der Bühne? Und dann kommt man schnell zu dem Punkt, an dem Interessen eine Rolle spielen. Das ist nicht einfach Zufall oder Provokation. Es geht um Einbettung, um Kontextualisierung! Und außerdem: Bitte alle von X runter, jede Institution, jede Einrichtung, das ist höchste Eisenbahn. Ich fände es gut, wenn Qualitätsmedien sich zusammensetzen würden und gemeinsam sagen, wir gehen jetzt runter von diesen Plattformen, alle.

Foto: Norman Posselt

Weitere Artikel

Abonnieren Sie unseren Newsletter!